Autismus
Autismus ist eine angeborene, tiefgreifende Entwicklungsstörung, die vor dem 3. Lebensjahr beginnt und sich in recht unterschiedlichen Symptomkombinationen und Ausprägungsgraden darstellt. Heute spricht man meist von "Autismus-Spektrum-Störung" (ASS) und unterscheidet immer seltener zwischen den Autismustypen "Frühkindlicher Autismus", "Asperger Syndrom" und "Atypischer Autismus".
Für alle Varianten gibt es übereinstimmende zentrale Merkmale, die sich drei Kernbereichen zuordnen lassen:
- interaktives soziales Verhalten
- sprachliche und körpersprachliche Kommunikation
- Repertoire von Interessen, Aktivitäten und Verhaltensmustern.
Etwa 45 % der autistischen Menschen leiden unter einer Intelligenzminderung, während einige wenige hochbegabt sind (wie z. B. beim Asperger Syndrom). Alle Auffälligkeiten gehen auf Veränderungen in Aufbau und Arbeitsweise des Gehirns zurück. Diese führen dazu, dass von Autismus Betroffene zwischenmenschliche Abläufe und Zusammenhänge nicht durchschauen und sich schwertun, grundlegende soziale Handlungsmuster zu erlernen, z. B. Beachten und Verstehen der sozialen Signale anderer (wie Stirnrunzeln oder anerkennendes Nicken), Blickkontakt, Nachahmung und Herstellen eines geteilten Aufmerksamkeitsfokus (wie dem anderen etwas Interessantes zu zeigen).
Es kommt zu Unregelmäßigkeiten (Anomalien) bei der Verarbeitung sensorischer Reize
(z. B. Überempfindlichkeit gegenüber Geräuschen, Lichtreizen, Berührung oder Gerüchen), beim Bewerten und schlussfolgernden Verarbeiten von Informationen (z. B. isolierte, zusammenhanglose Wahrnehmung von Details, wie alle roten Farbkleckse eines Bildes wahrnehmen, ohne das Mädchen zu erkennen) und in den sogenannten "exekutiven Funktionen" (z. B. Organisation des eigenen Handelns, wie sich anzuziehen). Daraus ergibt sich ganz allgemein eine ungewöhnliche Art des Lernens und Denkens, die sich auf das zwischenmenschliche Geschehen auswirkt und zu beidseitigen Missverständnissen und Verunsicherungen führt.
Die Skala an Sprachstörungen ist sehr breit.
Etwa die Hälfte der autistischen Menschen spricht gar nicht oder kommuniziert in Ansätzen mit Hilfe stereotyper Wörter oder kurzer Sätze, auswendig gelernter Redewendungen (Floskeln) oder wörtlichem Wiederholen von gehörten Wörtern oder Sätzen (Echolalie).
Simon kann gar nicht sprechen und kaum auf Ansprache reagieren; er kapselt sich ab und sortiert über Stunden hinweg seine Murmeln.
Andere haben Schwierigkeiten hinsichtlich Artikulation, Wortschatz, Grammatik oder Erzählen. Wieder andere drücken sich zwar auf hohem Niveau aus, jedoch ohne die Regeln und Normen eines zwischenmenschlichen Dialogs zu berücksichtigen und z. B. darauf zu achten, ob der Partner noch am Thema interessiert ist.
Max ist ganz fixiert auf seine Themen und überzieht, wo er geht und steht, andere Menschen mit langen Monologen; dabei sind die Formulierungen gewählt und die Sprachmelodie angespannt hoch.
Unabhängig davon, ob die Fähigkeit vorhanden ist, selber zu sprechen, ist auch das Verstehen von Sprache mehr oder weniger beeinträchtigt. Während manche Betroffenen die Wörter und Sätze rein sprachlich kaum verstehen, liegt bei den meisten das Handicap woanders: Sie können nicht zurückverfolgen, worauf ein Sprachkürzel wie "Noch mehr!" oder "Ja so was!" unausgesprochen Bezug nimmt, und was mit bildhaften Ausdrücken wie "Das junge Gemüse zuerst!" in der jeweiligen Situation gemeint ist. Darüber hinaus entgehen ihnen auch körpersprachliche Signale durch Gestik, Mimik, Haltung, Tonfall u.a., mit denen sprachliche Äußerungen verstärkt und Anliegen und Gefühle offenbart werden.
Autismus hat eine biologisch-organische Ursache, wobei den genetischen Faktoren eine zentrale Rolle zukommt. Bei ca 5% aller Betroffenen liegt eine nicht-genetische Ursache vor, wie z.B. die Rötelinfektion in der Schwangerschaft.
Von ASS betroffen sind knapp 1% der Personen eines Jahrgangs. Unter den Kindern, die bei der U7 sprachlich auffallen, sind es ca. 5 %.
Die Diagnose sollte von erfahrenen Fachärzten nach einer eingehenden kinder- und jugendpsychiatrischen Untersuchung mit spezifischen diagnostischen Instrumenten erstellt werden. Eine frühe Diagnose nach anerkannten Kriterien ist je nach Autismustyp zwischen 1 1/2 und 3 bis 4 Jahren möglich. Gelegentlich kommt es erst im Jugend- oder Erwachsenenalter zur Feststellung des Autismus. Im besten Fall sind die Eltern gefühlsmäßig schon in den ersten Monaten beunruhigt, wenn ihr Kind in mehrfacher Hinsicht schwierig erscheint: z. B. wenn es ungewöhnlich viel schreit, Probleme beim Schlafen und Essen hat, keinen Blickkontakt sucht und sich nicht für soziale Kontakte oder Spiele interessiert. Weitere Anhaltspunkte sind: eine auffällige oder ausbleibende Sprachentwicklung (z. B. kein Lallen) oder gar Rückschritte in der Sprache; Echolalie; die Unfähigkeit, die Körpersprache zu verstehen oder kommunikativ zu benutzen; sozialer Rückzug; allzu stereotypes Spielen; seltsame Verhaltensweisen wie Flattern mit den Händen; Erregbarkeit durch Veränderungen; außergewöhnliche Interessen; wenig Einfühlungsvermögen und erkennbare Anteilnahme (Empathie).
Je früher auf Anzeichen reagiert wird und eine von Fachleuten angeleitete und speziell auf Autismus abgestimmte Förderung stattfindet, desto besser die Prognose dieser fundamentalen Entwicklungs- und Lernstörung. Ganz besonders wichtig ist es, die Eltern umfassend zu informieren und einzubeziehen.
Autistische Kinder können erst dann die Fähigkeiten, auf die es ankommt, erlernen, wenn wir gewisse Rahmenbedingungen und Lernsituationen schaffen. Dazu gehören u.a. extrem kleinschrittiges Vorgehen und der Einsatz spezieller Techniken wie Verhaltenstherapie, Darstellen von Abläufen und Zusammenhängen in Bildern und Videos (Visualisieren, Videomodellierung) und Methoden der Unterstützten Kommunikation.
Inhaltlich ist es von größter Bedeutung, Schlüsselkompetenzen zu vermitteln wie Imitation, Beachten und Verstehen sozialer Signale, geteilte Aufmerksamkeit, "triangulärer Blickkontakt" (Verständigung durch Blicke), Vorstellungsvermögen hinsichtlich Wissen, Wünschen, Gefühlen und Absichten anderer Menschen ("Theory of Mind") und wechselseitiges Eingehen aufeinander.
Hauptanliegen in der logopädischen Therapie ist also, einesteils jene Grundkompetenzen zu fördern, von denen Sprachentwicklung wesentlich abhängt, und andernteils Fertigkeiten in allen Bereichen der Sprache und des Sprechens aufzubauen oder zu verbessern - insbesondere die Kunst, Sprache passend zur jeweiligen kommunikativen Situation einzusetzen (Pragmatik).
Erste Anlaufstellen für Eltern sind kinderpsychiatrische Zentren mit diagnostischer Erfahrung, die individuell untersuchen und beraten sowie Therapien einleiten. Inzwischen gibt es auch ein immer dichteres Netz aus Autismus-Therapiezentren. Außerdem bietet der Elternselbsthilfeverband Autismus Deutschland e. V. mit seinen zahlreichen Regionalgruppen vielfältige Unterstützung.
Herpertz-Dahlmann, B., Konrad, B., Freitag, C. (2010). Autismus heute. Frühförderung interdisziplinär, 29. Jahrgang, S. 3-12
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