Allgemeine kindliche Entwicklung
Die Sprachentwicklung eines Kindes ist Teil der allgemeinen kindlichen Entwicklung und steht in einer wechselseitigen Beziehung zu allen anderen Entwicklungsbereichen, d.h. der sensorischen, motorischen, sozialen, emotionalen und kognitiven Entwicklung.
Entwicklungsbereiche
Die Sensorik bezieht sich auf die Entwicklung der unterschiedlichen Wahrnehmungsbereiche, d.h. wie ein Mensch hört, sieht, fühlt, schmeckt, sich im Raum bewegt und all diese Eindrücke verarbeitet (Sensorische Integration) und daraus eine Vorstellung von seiner Umwelt entwickelt. Dies geschieht sowohl unbewusst als auch bewusst, je nachdem in welchem Umfang ein Mensch seine Aufmerksamkeit gezielt auf seine Umgebung richtet. Für die Sprachentwicklung eines Kindes sind alle diese Bereiche bedeutsam, von herausragender Bedeutung ist die Hörentwicklung. Die Weiterleitung und Verarbeitung der Sprachlaute der Umgebung basiert auf einer ungestörten Hörwahrnehmung.
Die Motorik umfasst alle Bereiche der Bewegung und Bewegungsabläufe. Dazu zählen die "Primärfunktionen" eines Neugeborenen (Saugen, Kauen, Schlucken, Lecken) ebenso wie trinken, essen, greifen, sprechen, singen, laufen, springen usw. Für die Sprach- und Sprechentwicklung eines Kindes sind (mund)motorische Fähigkeiten für die Artikulation (Bildung der Sprachlaute) und Phonation (Stimmgebung) bedeutsam, d.h. die Bewegung und das Zusammenspiel von Lippen, Zunge, Mund- und Gaumensegelmuskulatur, aber auch mimischer Muskulatur und Kaumuskulatur und Kehlkopffunktion.
Die soziale Entwicklung eines Kindes bezieht sich auf die Fähigkeit Beziehungen zu anderen Menschen herzustellen, dies bedeutet u.a. Bindungsfähigkeit zu entwickeln. Grundlage dafür ist die Mutter-Kind-Beziehung. Ein Kind im Spracherwerb profitiert von einer vertrauensvollen Beziehung zu seinen Bezugspersonen, die es als Modell für erfolgreiche Kommunikation nutzen kann. Es lernt sich auf andere Menschen einzustellen und sich entsprechend sprachlich zu verhalten.
Die emotionale Entwicklung eines Kindes bezieht sich auf die Kompetenz unterschiedliche Gefühle wahrzunehmen und selbst zum Ausdruck bringen zu können. Als universell, d.h. auf der ganzen Welt vergleichbar, werden 10 Gefühlsdimensionen angenommen: Interesse, Leid, Widerwillen, Freude, Zorn, Überraschung, Scham, Furcht, Verachtung und Schuldgefühl (vgl. Carroll E. Izard 1994). Die soziale und emotionale Entwicklung eines Kindes stehen in enger Wechselwirkung zueinander. Ein Kind, das eine vertrauensvolle Beziehung und starke Bindung zu seinen Bezugspersonen erwirbt, lernt frühzeitig positive Gefühle wie Interesse, Freude, Überraschung kennen, während ein Kind mit geringer Bindung vorrangig Gefühle wie Scham, Furcht, Verachtung oder Schuldgefühl lernt. Für die Sprachentwicklung eines Kindes ist die positive emotionale Entwicklung als Ausdruck starker Bindungsfähigkeit wichtig, damit das Kind die Eltern als Kommunikationspartner akzeptiert und von ihnen lernt.
Die kognitive Entwicklung eines Kindes wird auch als geistige oder intellektuelle Entwicklung bezeichnet. Sie meint die Fähigkeit, Gegenstände, Situationen, Personen, auch die eigene Person zu erkennen und einzuordnen. Zu den kognitiven Funktionen zählen z.B. Sprache, abstraktes Denken wie z.B. Problemlösen, Gedächtnis, Aufmerksamkeit, Handlungsplanung oder Wahrnehmungsfähigkeit.
Checkliste zur Einschätzung der allgemeinen Entwicklung
Eltern sind die Fachleute bei der Einschätzung der Entwicklung ihrer Kinder, da sie ihre Kinder täglich in den vielfältigsten Spiel- und Bewegungssituationen beobachten. Entsprechend fällt es ihnen in der Regel auch leicht zu entscheiden, ob ihr Kind die eine oder andere Fähigkeit in Spiel-Situationen schon beherrscht.
Auf der Grundlage der Beschreibungen des Entwicklungsneurologen Richard Michaelis ist eine Checkliste entstanden, die eine Einschätzung von 4 verschiedenen Entwicklungsbereichen vom 3. Monat bis zum 5. Lebensjahr erlaubt (Michaelis & Niemann 2010):
Entwicklungsbereiche
- Körpermotorik: z. B. aufrecht sitzen
- Handmotorik: z. B. mit der ganzen Hand nach einem Gegenstand greifen
- Denken: z. B. nach Gegenständen suchen
- Sozialverhalten: z. B. zwischen bekannten (wie Vater. Mutter) und unbekannten Personen unterscheiden
Die nachfolgende Checkliste beschreibt „Grenzsteine“ der Entwicklung vom 3. Monat bis zum 5. Lebensjahr. In den „Grenzsteinen“ sind Fähigkeiten beschrieben, die Ihr Kind zum angegebenen Zeitraum erreichen sollte. 90-95% der Kinder in Deutschland (Michaelis 1999) erreichen die hier beschriebenen Fähigkeiten spätestens zum angegebenen Zeitpunkt. Die Angaben beziehen sich auf das Ende des jeweiligen Zeitraums. Wenn Sie feststellen, dass Ihr Kind in einem Bereich (Körpermotorik, Handmotorik, Denken oder Sozialverhalten) nicht die angegebenen Fähigkeiten zeigt, ist es ratsam, zur weiteren Abklärung einen Kinderarzt aufzusuchen.
Gegen Ende des 3. Monats sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Aus der Bauchlage Kopf heben und Abstützen auf die Unterarme. |
Handmotorik | Die Hände werden über der Körpermitte zusammengebracht. |
Denken | Ein langsam vor den Augen hin- und herbewegtes, attraktives Objekt wird mit den Augen verfolgt. |
Sozialverhalten | Das Kind hält Blickkontakt und versucht die Kopflage zu ändern, um den Blickkontakt länger zu halten. Zurücklächeln bei bekannten und fremden Gesichter. |
Gegen Ende des 6. Monats sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Wenn Sie Ihr Kind langsam aus der Rückenlage zum Sitzen hochziehen, beugt es die Arme an und hält den Kopf in Verlängerung zum Rumpf. |
Handmotorik | Spielzeug wird von einer in die andere Hand gegeben, das Greifen erfolgt mit der ganzen Hand. |
Denken | Gegenstände werden aufmerksam von einer Hand in die andere gewechselt und in den Mund gesteckt. Aktivitäten in der nächsten Umgebung werden aufmerksam beobachtet. |
Sozialverhalten | Dem Kind zugewandtes freundliches Ansprechen und Berühren löst vergnügliche Reaktionen aus. Das Kind zeigt seine Freude über Zuwendung. |
Gegen Ende des 9. Monats sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Ihr Kind zeigt sicheres Sitzen ohne zeitliche Beschränkung mit geradem Rücken und guter Kopfkontrolle. |
Handmotorik | Gegenstände werden in einer oder in beiden Händen gehalten und durch Tasten intensiv erkundet. |
Denken | Interessante Objekte werden intensiv mit allen Sinnen (vor allem Tasten, Sehen, Schmecken) erforscht. |
Sozialverhalten | Sicheres Unterscheiden bekannter und fremder Personen, was sich jedoch nicht nur als "Fremdelreaktion" äußern muss. |
Gegen Ende des 12. Monats sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Ihrem Kind gelingt sicheres Stehen mit Festhalten an Möbeln und Wänden. |
Handmotorik | Beim Greifen von kleineren Gegenständen beherrscht Ihr Kind den "Pinzettengriff" mit Daumen und Zeigefinger. |
Denken | Interessante Objekte, welche vor den Augen Ihres Kindes versteckt werden, sucht und findet es. |
Sozialverhalten | Ihr Kind ist fähig, selbst soziale Kontakte zu beginnen (lacht fremde Kinder an), fortzuführen, zu verändern und zu beenden. |
Gegen Ende des 15. Monats sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Ihr Kind kann an den Händen gehalten oder mit Festhalten an Möbeln und Wänden gehen. |
Handmotorik | Zwei Klötzchen können nach Aufforderung und Zeigen aufeinandergesetzt werden. |
Denken | Es wird mit Objekte experimentiert. Gegenstände werden auf Verwendbarkeit geprüft. |
Sozialverhalten | Ihr Kind freut sich über Fingerspiele, Kinderreime, Nachahmspiele und rhythmische Spiele. |
Gegen Ende des 18. Monats sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Freies Gehen mit sicherer Gleichgewichtskontrolle gelingt. |
Handmotorik | Auf Aufforderung werden Gegenstände in ein Gefäß hineingetan oder herausgeholt. |
Denken | Ihr Kind kann aus 2-5 kleinen Klötzen einen Turm bauen (Zeigen erlaubt). Das Kind zeigt Rollenspiele mit sich selbst (z.B. Trinken aus Spielzeugtasse). |
Sozialverhalten | Einfache Gebote und Verbote werden verstanden und mehr oder weniger beachtet. |
Gegen Ende des 2. Lebensjahrs sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Ihr Kind rennt sicher und kann dabei Hindernisse umsteuern. |
Handmotorik | Buchseiten können einzeln umgedreht werden. Bonbons können geschickt aus ihrer Umhüllung gewickelt werden. |
Denken | Ihr Kind zeigt kleine Rollenspiele mit Puppen, Spieltieren sowie Ansätze zu selbstbestimmtem, konstruktivem Spiel. |
Sozialverhalten | Das Kind ist in der Lage, sich allein in der Wohnung aufzuhalten und zu spielen, wenn es die Mutter in der Wohnung weiss. |
Gegen Ende des 3. Lebensjahrs sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Ihr Kind kann mit beiden Beinen von der untersten Treppenstufe herunterhüpfen und sicher auf beiden Füßen landen. |
Handmotorik | Kleinere Objekte können präzise mit den vordersten Fingeranteilen gegriffen und an anderer Stelle wieder auf- oder eingesetzt werden. |
Denken | "Kopffüßler" werden gezeichnet. Obwohl noch wenig gestaltendes Malen möglich ist, wird Dargestelltes doch kommentiert. Intensive Rollen- und "Als-ob-Spiele". |
Sozialverhalten | Das Kind hilft gerne – so weit möglich – den Bezugspersonen. Die Tätigkeiten Erwachsener werden dabei nachgeahmt. |
Gegen Ende des 4. Lebensjahrs sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Ihr Kind kann ein Dreirad oder ähnliches Fahrzeug mit koordinierten Beinbewegungen fahren und steuern. |
Handmotorik | Ein Malstift wird korrekt zwischen den ersten 3 Fingern der Hand gehalten. |
Denken | Das Kind zeigt differenzierte Rollenspiele, aber oft noch mit sich alleine (Puppen, Kaufladen, Fahrzeuge). W-Fragen werden gestellt (Warum, Wieso, Wo, Woher, Wann). Genaues Zuhören beim Vorlesen oder bei Erklärungen. |
Sozialverhalten | Das Kind versteht, dass bei gemeinsamen Spielen auch andere Kinder an der Reihe sind. Die Bereitschaft zu teilen besteht. |
Gegen Ende des 5. Lebensjahrs sollte ihr Kind die folgenden Fähigkeiten sicher erworben haben.
Entwicklungsbereiche | Beispiele |
Körpermotorik | Ihr Kind kann Treppen freihändig und mit Beinwechsel ohne Schwierigkeiten auf- und abwärtsgehen. |
Handmotorik | Eine Kinderschere kann benutzt werden, Kleben und einfaches Basteln wird beherrscht. Vorlagen können unter Beachtung der Begrenzungen sauber ausgeschnitten werden. |
Denken | Die Rollenspiele werden detaillierter (Puppenstube, Bodenspiele, situatives Nachspielen). Andere Kinder werden mit einbezogen. Konstruktionsspiele mit Bauelementen werden gespielt. |
Sozialverhalten | Das Kind kooperiert im Spiel mit anderen Kindern, befolgt Spielregeln. Emotionale Äußerungen anderer Kinder (und Erwachsener) werden verstanden, es kann darauf eingegangen werden (z.B. trösten, helfen). |
- Michaelis, R., Niemann, G. (2010). Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie. 4. vollständ. überarb. und erweit. Aufl., Stuttgart: Thieme