Funktionelle orofaziale Störungen (Myofunktionelle Störungen)
Bei einer funktionellen orofazialen Störung handelt es sich um eine Störung der Muskulatur im Mund-Gesichtsbereich. Betroffen sind die Bewegungs- und Koordinationsabläufe sowie das muskuläre Gleichgewicht aller am Schlucken beteiligten Strukturen (Wangen-, Lippen- und Zungenmuskulatur).
Folgende Symptome können im Rahmen einer funktionellen orofazialen Störung auftreten:
Inkompletter Mundschluss, Mundatmung, vermehrter Speichelfluss, sensorische und motorische Defizite der Zunge (eingeschränkte Zungenbeweglichkeit), unphysiologische Zungenruhelage, Vorverlagerung der Zunge beim Sprechen, bei insgesamt unausgeglichener Muskelbalance im Mund-, Gesichts-, und Halsbereich.
Kommt es zusätzlich zu einem oder mehreren dieser Symptome einer orofazialen Dysfunktion auch zum Zungenstoß gegen die Zähne (Zungenprotrusion, "Tongue thrust"), spricht man von einer Myofunktionellen Störung (MFS).
Mögliche Folgen einer nicht behandelten funktionellen orofazialen Störung sind eine gestörte Kau-, Beiß- und Schluckentwicklung, „verwaschene“ und/oder „feuchte“ Aussprache, die Zischlaute wie /sch/ und /s/ betreffende Artikulationsstörungen (Schetismus/Sigmatismus).
Der permanente Zungenstoß gegen die Zähne beim Schlucken kann zu Zahn- und Kieferfehlstellungen führen.
Als mögliche Risikofaktoren für die Entstehung einer funktionellen orofazialen Störung gelten beispielsweise Störungen während der Embryonalzeit oder Komplikationen während der Geburt. Zu den Ursachen zählen unter anderem Frühgeburtlichkeit, Syndromerkrankungen (zum Beispiel Morbus Down; Pierre-Robin-Syndrom) und zerebrale Bewegungsstörungen, ein falsch erlerntes Schluckmuster, die Ernährung über die Flasche mit zu großem Saugerloch, eine unphysiologische Körper- und Kopfhaltung, wiederkehrende und anhaltende HNO-Erkrankungen, Mundatmung, eine unphysiologische Zahn- und Kieferstellung sowie ungünstige erworbene Gewohnheiten (Habits) wie Schnuller-/Daumenlutschen oder Nägelkauen.
Folgende Studien geben Auskunft über die Häufigkeit orofazialer Störungen bei Kindern im Vorschulalter:
Meilinger, M. (2015):
19,8% von 102 untersuchten fünf- bis siebenjährigen Kindern (Durchschnittsalter: 5;8 Jahre) zeigten eine Myofunktionelle Störung (Kombination aus 3 bis 4 Einzelsymptomen, wie etwa Zungenvorstoß beim Schlucken, geöffnete Zahnreihen, Lippenmitbewegungen beim Schlucken oder Mundatmung/offene Mundhaltung).
Einzelne Symptome kamen häufiger vor:
- isolierte Vorschubbewegung der Zunge beim Schlucken (Zungenprotrusion/Zungenstoß): 23,8%
- eingeschränkte Lippen- und/oder Zungenbeweglichkeit: 41,4%
- offene Mundhaltung: 54%
Fletcher et al. (1961):
Sie untersuchten insgesamt 1615 Kinder im Alter zwischen 6-18 Jahren.
Hier lag bei über 52% der Sechs- und Siebenjährigen ein Zungenstoß vor.
Zur Feststellung einer funktionellen orofazialen Störung werden im Rahmen eines Anamnesegesprächs zunächst der bisherige Entwicklungsverlauf, mögliche Ursachen und aufrechterhaltende Faktoren wie Habits oder ungünstige Ernährung/Essgewohnheiten erhoben. Anschließend erfolgen die Lautüberprüfung sowie die Überprüfung des Zahnstatus und der Mundhöhle. Auch wird eine Funktionsüberprüfung der Beweglichkeit/Wahrnehmung und der am Schlucken beteiligten Muskeln durchgeführt. Der Schluckvorgang selbst wird mithilfe der „Payne-Technik“ (Ermittlung der Zungen-Kontaktstellen während des Schluckens mithilfe von fluoreszierender Farbe) und dem Einsatz von „Lippenhaltern“ klassifiziert.
Basis für eine individuelle Therapie zur Regulation der orofazialen Muskulatur bilden die interdisziplinäre Zusammenarbeit und Diagnosestellung (HNO-/Zahnarzt, Kieferorthopäde, Pädiater, Physiotherapeut und Logopäde). Mehrere Bausteine sind auf Basis einer ausführlichen Diagnostik auszuwählen, individuell zu gewichten und fortlaufend an die Bedürfnisse und Ziele des Patienten anzupassen.
Grundsätzliche Ziele der sogenannten Myofunktionellen Therapie sind unter anderem die Stimulation der oralen Wahrnehmung und Sensibilität, der Abbau ungünstig auf das Muskelfunktionsgleichgewicht wirkender Verhaltensmuster sowie die Anbahnung physiologischer Bewegungsmuster und der Nasenatmung. Eine Intervention nutzt dabei wahrnehmungstherapeutische Methoden, trainiert die korrekte Lippen- und Zungenruhelage inklusive Mundschluss und Nasenatmung, unterstützt die orofaziale Regulation durch gezieltes Muskelfunktionstraining (mundmotorische Übungen) und bahnt das physiologische Schluckmuster an.
Die Behandlung ist präventiv als Maßnahme zum Beispiel bei frühgeborenen oder mehrfachbehinderten Kindern, als Unterstützung vor/während/nach einer kieferorthopädischen Behandlung oder begleitend/vorbereitend für die Artikulationstherapie möglich.
Eltern, die sich Sorgen in Bezug auf die Kiefer- und Mundentwicklung, die mundmotorischen Fähigkeiten und/oder die Artikulation machen und/oder oben genannte Symptome an ihrem Kind beobachten, sollten den Kinder-/HNO-Arzt, Phoniater oder den Kieferorthopäden aufsuchen, um Beratungsangebote zu erhalten. Früherkennung, Diagnostik und Therapieplanung erfolgen in enger Absprache der im orofazialen Bereich spezialisierten Fachdisziplinen.
Bigenzahn, W. (2002). Orofaziale Dysfunktionen im Kindesalter: Grundlagen, Klinik, Ätiologie, Diagnostik und Therapie. 2. überarb. Aufl., Stuttgart: Thieme.
Böhme, G. (2003). Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen. Band 1: Klinik. 4. Auflage, München: Urban & Fischer.
Fletcher, S.G.; Casteel, R.L. & Bradley, D.P. (1961). Tongue-Thrust Swallow, Speech Articulation and Age. Journal of Speech and Hearing Disorders 26 (3), S. 201-208.
Kittel, A. M. (2012). Myofunktionelle Störungen. Ein Ratgeber für Eltern und erwachsene Betroffene. Idstein: Schulz-Kirchner.
Klein, M. D. & Morris, S. E. (2001). Mund- und Esstherapie bei Kindern. Entwicklung, Störungen und Behandlung orofazialer Fähigkeiten. München: Urban & Fischer.
Meilinger, M. (2015). Untersuchung ausgewählter Aspekte myofunktioneller Störungen im Vorschulalter. 2. unveränderte Auflage. München: Utz
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