Mutismus
"Nina spricht im Kindergarten nicht! Dabei kann sie sich zu Hause schon ganz verständlich ausdrücken. Zuerst haben wir gedacht, dass sie sich die neue Situation erst vertraut machen muss, aber nach 3 Monaten hat sich noch nichts Wesentliches verändert!"
So beschreiben Eltern oder Erzieherinnen das Verhalten selektiv mutistischer Kinder. Selektiver Mutismus ( lat.: mutuus = stumm) bedeutet, dass Kinder unter bestimmten Bedingungen nicht sprechen können, in anderen Situationen aber altersgerecht sprechend kommunizieren. Begleitet wird die Störung häufig von sozialer Ängstlichkeit, Regulationsstörungen des Schlafes, der Nahrungs- und Ausscheidungskontrolle.
Als Risikofaktoren gelten Bindungsunsicherheiten, Bilingualität bzw. –kulturalität, Sprach-entwicklungsstörungen i.e.S., familiäre Stress- und Belastungserfahrungen, introvertiertes Temperament sowie familiäre Vorbilder. Diese Faktoren können im ungünstigen Fall zu einem Schweigeverhalten führen. Stand anfangs das Schweigen für einen Lösungsversuch angesichts einer kindlichen Überforderung, kann es sich später zu einem selektiven Mutismus verfestigen: Das betroffene Kind steigt sprachlich, häufig aber auch kommunikativ aus der sozialen Situation aus! Hier entsteht dann ein Teufelskreis aus Vermeiden sprachlicher Kommunikation und Verpassen sprachlichen und sozial-emotionalen Lernens. Vielfach tritt die Störung beim Übergang des Kindes in den Kindergarten auf, der als erste (bedeutsame) familienfremde Lebenswelt als bedrohlich und fremd erlebt wird ( Frühmutismus). Das Risiko des späteren Auftretens der Störung ist weitaus geringer.
Der selektive Mutismus ist eine seltene Störung: 1-7 von Tausend Kindern sind betroffen. Von der Störung sind Mädchen 1,6 – 2,6 mal häufiger betroffen als Jungen (Katz-Bernstein, N. 2011, 31f). Im Vergleich zum Autismus kommt der selektive Mutismus nach anglo-amerikanischen Studien doppelt so häufig vor. Anders als Autisten entwickeln selektiv mutistische Kinder Sprache, auch sind sie nicht auffällig hinsichtlich ihrer Wahrnehmungsfähigkeit und häufig sehr einfühlsam mit ihren Vertrauenspersonen.
Schüchterne Kinder suchen aktiv nach Wegen, wie sie in einer für sie fremden Umgebung Vertrauen fassen können, sodass sie sich nach einer Eingewöhnungszeit allmählich öffnen. Im Gegensatz dazu verharren mutistische Kinder in ihrem Schweigeverhalten und entwickeln auch keine Strategien zur Anpassung an die neue Situation. Manche Kinder „erstarren“ auch in ihrem körperlichen Ausdrucksverhalten und in ihrer Mimik in auffälliger Weise, andere vermeiden auch alle Körpergeräusche wie Husten etc.
In einem Anamnesegespräch mit den Eltern, bei dem das Kind nicht anwesend sein sollte, werden die individuellen Bedingungen, die das Kind zum Schweigen oder auch zum Sprechen bewegen, erfasst: Die Eltern berichten, in welchen Situationen das Kind spricht bzw. eher "still" ist, wie lange das Schweigen schon andauert (die Geschichte, der Beginn, die Dauer, Ausnahmen des Schweigens), welche Vermutungen sie haben, wodurch das Schweigen des Kindes ausgelöst wurde und ob sie beobachtet haben, ob und wie das Kind sich zum eigenen Schweigen äußert.
Das - "unter bestimmten Bedingungen schweigende, unter anderen Bedingungen sprechende" - Kind lernt in der Therapie zunächst, außersprachlich mit einer "fremden" Therapeutin in Kontakt zu treten. Austauschendes Blickverhalten, Gestik und Mimik sowie gemeinsames Spielen schaffen das Vertrauen, um sich langsam auch sprachlich zu öffnen.
In einem spezifisch für das Kind gestalteten Therapiesetting erhält es Gelegenheit, seine kommunikativ-pragmatischen Kompetenzen zu erweitern und auch außerhalb der Familie zu erproben. Behutsam wird es angeleitet, seine scheinbar unvereinbaren Lebenswelten zu überbrücken, seine Selbstwirksamkeit in handelnder und sprachhandelnder Weise zu erfahren und gegebenenfalls auch seine sprachlichen Defizite zu überwinden.
Die Beratung und Einbeziehung der Eltern, aber auch anderer Systeme wie Kindergarten, Schule etc. durch begleitende Elterngespräche bzw. aufsuchendes Networking sind gleichfalls unerlässlich. Je früher ein selektiv mutistisches Kind erfasst und einer Therapie zugeführt wird, desto günstiger ist seine Prognose. Unbehandelt kann sich die Störung fixieren und im Selbstkonzept des Betroffenen so fest verankert werden, dass eine Veränderung der kommunikativen Möglichkeiten eingeschränkt wird. Negative Auswirkungen auf den Bildungs- und Berufsweg sind die Folge.
Eltern, die sich Sorgen wegen der kommunikativen Entwicklung ihres Kindes machen, sollten in jedem Fall den Kinderarzt oder auch eine Beratungsstelle, wie z. B. Sozialpädiatrische Zentren, Frühförderstellen oder Sprachambulanzen in Gesundheitsämtern aufsuchen.
Vielfältige Informationen, Hinweise, Fachtage und Therapeutenlisten finden sich auf der Webseite www.selektiver-mutismus.de des Vereins „StillLeben e. V.“
Definition
"F94.0 Elektiver Mutismus: Dieser ist durch eine deutliche, emotional bedingte Selektivität des Sprechens charakterisiert, so dass das Kind in einigen Situationen spricht, in anderen definierbaren Situationen jedoch nicht. Diese Störung ist üblicherweise mit besonderen Persönlichkeitsmerkmalen wie Sozialangst, Rückzug, Empfindsamkeit oder Widerstand verbunden." (ICD10).
Behandlungsleitlinie
Liegt nicht vor.
Versorgung im Rahmen der Frühförderung nach SGB IX, § 30.
Verordnung nach Heilmittelkatalog
Diagnosegruppe SP1
Die Verordnung von Sprechtherapie ist gesetzlich geregelt. Weiterführende Hinweise dazu finden Sie auf der Seite "Logopädie wird verordnet".
Literaturhinweise
Katz-Bernstein, Nitza (2011), Selektiver Mutismus bei Kindern, München: Reinhardt
Fortbildungsangebote
Links
- Fachzeitschrift:
- Link zur Seite: Mutismus.de - Fachzeitschrift für Mutismus-Therapie, Mutismus-Forschung und Selbsthilfe
- Selbsthilfe:
dbl-Materialien
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